Kindheitserinnerung in Glas. Volles Senfglas mit Madagascar-Figuren Zebra Marty und Löwe Alex vor grauer Wand
Alltagsgeschichten,  Persönliches

Von Senf und Scherben – Erinnerungen aus dem Glas

Der Senf ist aus. Ich bevorzuge da ja eine ganz bestimmte Marke. Manch einer mag jetzt denken – wie jetzt? Eine bestimmte Marke? Senf ist Senf. Also der normale Senf, ohne irgendwelche zugesetzten Aromen. Stimmt vielleicht. Aber irgendwie hab ich mich auf diesen einen Senf eingeschossen. Erst gab‘s den nur in so einem Plastiktöpfchen, dann in Gläsern. Gut so. Plastik will man ja nicht mehr.

Als wir dann heute loszogen, um Nachschub zu besorgen, stellten wir fest, dass die Gläser derweil mit irgendwelchen Männekes aufgehübscht wurden. Wohl mit dem Ziel, Sammelbedürfnisse zu wecken und eine Tradition wieder ins Bewusstsein zu bringen, die, soweit ich weiß, seit Generationen ausgestorben ist. Leere Senfgläser werden nun nicht weggeschmissen. Fortan werden sie in Küchenschränken gehortet und finden in der zukünftigen Verwendung als Trinkgläser ihre neue Bestimmung.

So wie früher, zu meiner Zeit, also zur dunklen analogen Zeit, als unsere Eltern nichts wegwerfen konnten und neben Prilblumen auch Senfgläser gesammelt und wiederverwertet wurden. Das war damals ganz normal. Ich kenne das überhaupt nicht anders. Bei uns zu Hause wurde ausschließlich aus Senfgläsern getrunken. Aus leeren, versteht sich. Die bekamen alle eine zweite Chance. Und wir hatten nicht nur zwei oder drei davon im Schrank stehen. Nein, bei uns hätte gefühlt jeder ausse Straße inne Siedlung aus einem unserer Senfgläser trinken können. Hatten se aber nicht, weil die ja alle selbst genug Senfgläser in den Schränken hatten.

Und natürlich waren das alles unterschiedliche Gläser. Mal so richtig dicke Wämser, mal schlank, mal mit dickem Boden, mal mit dünnerem. Aber alle, wirklich alle, waren stabil.  

Wenn ich so darüber nachdenke, komme ich nicht umhin zu fragen: Haben wir uns wirklich nur von Senf ernährt? Wie kommt man sonst an so viele Senfgläser? Ich vermute es mal.

Natürlich hatten meine Eltern auch richtige Gläser. Also andere Gläser als Senfgläser. Das waren so ganz ganz dünne. Mit merkwürdigen Gravuren. Die waren so dünn und so fein, die gingen schon vom ankucken kaputt. Nix für Kinderhände. Die waren nur für „Gut“. 

Früher gab’s ja auch Klamotten für „Gut“. Für Sonntags. Zum Spazieren gehen. Immer in feine Pelle Schaufensterbummel machen. Oder im Stadtgarten. Immer mit dieser kratzigen Sonntagsbuxe und den guten Schuhen, mit denen ich nie gegen irgendwelche Dosen oder Steine kicken durfte. Gab gleich ein paar in den Nacken, wenn doch. Und Spazieren gehen. Was sollte das überhaupt? Hab ich nie verstanden. Haben nur Erwachsene verstanden.

Ich erinnere mich an ein Weihnachten. Da wurde Heiligabend natürlich mit dem guten Geschirr eingedeckt. Und natürlich auch mit den guten, zarten Gläsern. 
Und dann passierte es. Statt, wie es sich gehört, zufrieden aus dem schönen Glas und nicht aus dem Senfbembel zu trinken, biss ich einfach mal ein Stück raus aus diesem dünnen Gläschen. Warum? Keine Ahnung – macht es Sinn Kinder immer nach dem „warum“ zu fragen? Ich glaube einfach, ich wollte mal wissen, was die Gläser so aushalten. Ob die auch so stabil waren wie die Senfgläser. Oder es hat kurz mal irgendwas ausgesetzt in dem Moment. Wer weiß das schon.

Jedenfalls blieb das nicht folgenlos. Ich hab mir dafür ausnahmsweise mal keinen eingefangen, dafür war auch wirklich keine Zeit. Ich hab nämlich ganz famos den fein gedeckten Tisch vollgeblutet. Selbstverständlich mit viel Schreierei. Versteht sich. Danach habe ich nur noch Senfgläser vorgesetzt bekommen. Immer.

Heute trinke ich aus diesen Ikea Humpen. Kennst du ja. Aber wenn ich mir jetzt dieses Senfglas so anschaue …

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Martin

Ruheständler mit Reiselust und Hang zu kreativen Eskapaden. Mit Beginn des Ruhestands habe ich nun Zeit und Lust mein Leben in Worte zu fassen. Früher war mehr Dia-Abend, heute mehr Blog.

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